Mehr als Mode

11/12/2014
Ein Strom erzeugendes Kleid, isolierende Feuerwehranzüge, die dennoch atmen, antibakterielle Kuschelbekleidung für Krankenpfleger, eine exklusive, auf dem Mond zu tragende Kollektion oder ein Cradle-to-Cradle-Outfit aus reinem Polyester. Das alles hat die Modetechnologin Marina Toeters sich ausgedacht, erforscht und produziert, aber nie allein. „Ich versuche, eine Brücke zwischen Technikern und Modedesignern zu schlagen, weil sie sich gegenseitig weiterhelfen können."

„Mode hat den Anspruch, sehr innovativ zu sein, aber das ist sie nicht“, betont Marina Toeters. Seit der Einführung des Polyester 1953 sei wenig Neues geschehen. „Das Einzige, was sich verändert, sind Rocklängen, Farben und Kragen.“ Toeters ist studierte Modedesignerin, hat aber wenig Affinität mit der jeweils letzten Mode, die sich ja jede Saison ändert und die Wegwerfmentalität fördert. „Mode kann sehr viel mehr sein“, meint sie. Dieses „Mehr“ könne vor allem in extra Funktionen bestehen. Deshalb sind in all ihre Entwürfe zusätzliche Komponenten eingearbeitet, die das Leben bequemer machen und unsere Zukunft im Auge behalten. Der Rohstoffvorrat wird bekanntlich immer knapper und die Erde immer schmutziger. Daran trägt auch die Textilindustrie eine erhebliche Mitschuld. „Das allein schon zwingt zu Innovationen“, sagt Toeters. „Der Herstellungsprozess, die Materialien und die Funktionalität können nachhaltiger, praktischer, effektiver gestaltet werden.“ Um dies zu erreichen, bemüht sie sich um Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten. 

Reiner Polyester

Die Schaufensterpuppen in ihrer Firma by-wire.net zeigen die Früchte einer solchen intelligenten Kooperation. Es handelt sich dabei um Projekte im Auftrag von Philips und der Europäischen Raumfahrtagentur, aber auch um eigene Initiativen. Mit ihnen will sie der Welt zeigen, was alles möglich ist, in der Hoffnung, dass die Wissenschaft einsteigt und letztendlich die Industrie zur Fertigung übergeht. Ein Beispiel ist ihre Cradle-to-Cradle-Kollektion, die – weil es um einen sauberen Recyclingprozess geht – komplett aus nur einem Material besteht, nämlich Polyester. Das klingt nach Chemie und wenig Umweltfreundlichkeit. Aber es sei ein Missverständnis, dass Bekleidung aus natürlichen Materialien besser für unsere Erde wäre. „Polyester lässt sich mit wenigen Chemikalien und ohne Qualitätseinbußen endlos wiederverwenden, solange er rein und nicht mit anderen Materialien vermischt ist.” Die Kleidungsstücke werden nicht vernäht, sondern ultraschallgeschweißt. So lassen sich die Stücke nicht nur leichter wieder trennen, sondern das gebräuchliche Baumwollgarn würde auch noch den Recyclingprozess verunreinigen. Die Herausforderung bestand darin, dem Polyester trotzdem unterschiedliche Strukturen und Oberflächenqualitäten zu verleihen. Dafür hat Toeters gemeinsam mit Textildesignern, Textiltechnologen und einem Strickereibetrieb eine Lösung gefunden. Weich, geschmeidig oder mehrlagig, fest, glänzend, matt oder mit eingelasertem Muster – alles erwies sich als machbar. Und es erspart sehr viel Verunreinigung und Abfall. „Es wäre natürlich phantastisch, wenn H&M eines Tages die ganze Kollektion auf Wiederverwertbarkeit umstellt.“

Sauberer Strom 

Man müsse nicht gleich die ganze Welt verbessern, aber ein Mehrwert sollte schon entstehen, relativiert Toeters. Etwa ein Kleid, das Strom erzeugt, um ein Smartphone aufzuladen. Dann hätten wir nicht mehr das Problem mit einem leeren Akku im unpassendsten Augenblick. Intensive Untersuchungen gemeinsam mit einem Team technischer Entwerfer haben in diesem Jahr zu ersten Anwendungen von Solar Fiber geführt. Ein Glasfaserfaden wird in die Bekleidung integriert, etwa in die Schulterbänder eines Kleides. Er nimmt Sonnenlicht auf und leitet es zu einer Solarzelle unter dem Rock. Die Solarzelle soll künftig genügend Energie produzieren, um ein Handy oder Tablet aufzuladen. Diese Eigeninitiative gewann kürzlich den Hauptpreis des Wettbewerbs „Ideas Waiting to Happen“ und wird nun in Zusammenarbeit mit mehreren Partnern weiterentwickelt. „Für Viele ist es ein beängstigender Gedanke, mit der Kleidung, die man trägt, Strom zu erzeugen“, hat Toeters erlebt. „Aber jeder hat ein Handy in der Tasche. Wir laufen schon lange mit Strom am Körper herum. Solar Fiber macht die Elektrizität nur sauberer.“

Kuschelig

Offiziell ist by-wire.net ein Einzelunternehmen, aber Toeters führt kein Projekt im Alleingang durch. Je nach Produkt werden Techniker, Interaktionsgestalter, Werkzeugbauer, Textiltechnologen und oft auch Mediziner hinzugezogen, etwa beim „BlueTouch Pain Relief Patch“, einem Medizintechnikerzeugnis von Philips, das bei Rückenschmerzen die Haut mit blauem LED-Licht bestrahlt. „Philips war früher vor allem wegen seiner Glühlampen bekannt, aber das ist vorbei. Heute ist das Unternehmen Marktführer bei der Entwicklung von Anwendungen für die Medizin.“ Toeters entwarf Lichtquellenträger, die als Gürtel oder Weste unter der Bekleidung getragen werden können. Sie erwartet, dass in Zukunft eine Schmerztherapie immer häufiger über die Kleidung erfolgt. Die große Bedeutung dieses Verfahrens erleichtert die Akzeptanz durch den Konsumenten. BlueTouch ist inzwischen in Deutschland zu kaufen. 

Ein anderes Produkt für die medizinische Anwendung sind antibakterielle Garne aus Silberfäden, mit denen den steigenden Hygieneanforderungen in Krankenhäusern entsprochen wird. Da Toeters die Fäden in flauschige Polyesterstoffe einarbeitet, sind die Kleidungsstücke viel kuscheliger als die distanziert wirkende weiße Bekleidung, die das medizinische Personal heute trägt. Damit gelingt es ihrer Huggy-Care-Kollektion, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: bakterientötend und dennoch mit angenehm warmer Ausstrahlung. 

Überzeugungskraft

Die Prototypen und Muster auf den Kleiderpuppen wirken recht teuer. Toeters kann noch wenig darüber sagen, was so ein Solarkleid einmal im Laden kostet, aber das es nicht unerschwinglich sein darf, stehe fest. „Er werden unglaublich interessante Technologien entwickelt. Mein Ziel ist es, sie kommerziell nutzbar zu machen, damit jeder etwas davon hat.“ Es ist noch viel zu tun, bevor das alles Wirklichkeit wird. Wer muss die Hauptarbeit leisten? Toeters: „Modedesigner können wie niemand sonst kreative Lösungen ersinnen und den Verbraucher davon überzeugen, was ‚in‛ ist. Tüftler können die besten technischen Lösungen ausdenken und diese Schritt für Schritt verbessern. Ich merke übrigens, dass man dort auf kreative Visionäre wirklich wartet. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, werden Innovationen möglich.“

Und dann muss auch noch die Bekleidungsindustrie gewonnen werden. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der Branche geben Anlass zur Hoffnung, sagt Toeters: „Gerade in solchen Phasen suchen die Menschen nach neuen Optionen. Dann entstehen interessante Crossovers.“

 

Marina Toeters (1982) schloss die Kunsthochschule Utrecht (MaHKU) mit cum laude ab für eine Untersuchung in der Modebranche nach der zwischen Designern und Technikern bestehenden Kluft. Nach ihrem Studium gründete sie ihre Firma by-wire.net. Sie arbeitet als selbständige Modetechnologin und designerin für u.a. Philips Research, Philips Design, Kwintet Workwear und die Europäische Raumfahrtagentur ESA. Toeters ist an mehreren Hochschulen und Universitäten tätig. Sie hat u.a. Lehraufträge an der TU Eindhoven und der Kunsthochschule Utrecht. 

www.by-wire.net